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Die Plagen der Menschheit- Seuchenerfahrungen in Versmold

20.04.2020

Von Stadtarchivar Rolf Westheider Ebenso vorsichtig wie die Virologen zum weiteren Verlauf der Corona-Pandemie äußern sich Medizinhistoriker zur Vergleichbarkeit der aktuellen Gesundheitskrise mit früheren Seuchenereignissen.

Generell gilt für die Vergangenheit, dass Massenerkrankungen stets Zeichen innerer oder äußerer Krisen waren. Auch die für Versmold verzeichneten Epidemien gingen immer mit wirtschaftlicher Not oder Kriegsfolgen einher. Bis zum Beginn der Industrialisierung gilt weiterhin, dass es sich stets nur um Epidemien handelte, also um lokal oder regional begrenzte Ereignisse in ganz unterschiedlicher Schwere. Es kam auch vor, dass in einer Stadt eine Seuche grassierte, von der in 50 Kilometern Entfernung niemand etwas wusste und die dort auch nie auftauchte.

Auffällige Seuchenereignisse wurden in der Stadtchronik festgehalten. 1726 wütete in Versmold die „rote Ruhr“ (Dysenterie), eine bakterielle Darminfektion. Während sich die Todesrate in normalen Jahren zwischen 90 und 120 bewegte, waren in diesem Jahre 318 Todesfälle zu verzeichnen, denen lediglich 126 Geburten gegenüberstanden. Im September starben 55, im Oktober 112 und im November 35 Menschen an der Ruhrepidemie. Nachdem auch Pfarrer Anton Nortzell am 22. September der Seuche zum Opfer gefallen war, mussten alle Toten vom zweiten Geistlichen Johann Christoph Wörmann beerdigt werden. Wörmann hatte am 6. Oktober zehn, am 7. Oktober elf und am 8. Oktober sieben Beerdigungen an einem Tage zu versehen. Über diese Mehrfachbelastungen berichtete sein späterer Kollege Anton Clamor Löning: Wörmann habe "an einem Freitage vor der Wochenpredigt etliche und vierzig Beichtleute gehabt, verschiedene andere Ministerialhandlungen verrichtet, darauf gepredigt und Communion gehalten. Wie er zu Hause gekommen, hätten schon 8 Pferde vor seiner Thür gehalten, die ihn zu so viel Ruhrpatienten geholet; unter Weges wären noch vier dazu gekommen: Gott aber hätte ihn gestärket, daß er dabey ganz munter geblieben wäre." (Dass man sich bei dieser Gelegenheit fragt, ob die Reformation an Versmold vorbei gegangen ist, steht auf einem anderen Blatt.) Wörmann starb am 18. Februar 1743 im Alter von 45 Jahren an der Harnruhr (Diabetes mellitus).

Armut macht krank


Das 19. Jahrhundert begann auch in Versmold mit größter Armut für weite Bevölkerungsschichten. Indikatoren sind neben der Armutskriminalität wie Holzdiebstahl oder Schmuggel auch erhöhte Sterblichkeitsraten. 1801 forderten die Pocken in Oesterweg zahlreiche Opfer. "Im Spätherbst 1805 zeigte sich hier das bösartige nervöse 'Faulfieber' [Fleckfieber], das immer mehr um sich griff und vor allem im Frühjahr 1806 viele Menschen dahinraffte", wie die Stadtchronik vermerkt.
Noch 1843 führten Not und Armut zur Ausbreitung der Masern, wie ebenfalls in der Chronik festgehalten wurde: "Unter den Kindern grassierten die Masern ziemlich stark. In der Mitte des Jahres erkrankten in Versmold, Loxten und Peckeloh im Ganzen 25 Personen, von denen fünf an den wahren Menschenblattern [Windpocken] starben, die übrigen aber genasen." Ob Masern oder Windpocken, das konnte noch nicht unterschieden werden. Zu den durchgängig häufigsten Todesursachen zählte auch die Tuberkulose.

Waren solche Epidemien bis dahin lokale oder regionale Ereignisse, so breitete sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Cholera als Pandemie in mehreren Wellen über mehrere Kontinente hinweg aus. Nach Ausbruch in der preußischen Armee wurde die Cholera 1866 durch den preußisch-österreichischen Krieg zunächst nach Österreich und danach auch in weite Teile Deutschlands getragen. Offiziell wurden in Preußen 114.638 Cholera-Tote gezählt.

Die Cholera bringt das Krankenhaus

Die Erfahrungen mit der Cholera beschleunigten auch die Pläne für den Bau des Versmolder Krankenhauses. Dabei ging es zunächst gar nicht um die Erhaltung der Gesundheit der Lebenden, sondern vielmehr um die Unterbringung der Toten. Die Stadt hatte bei der evangelischen Kirchengemeinde den Bau eines separaten Choleraleichenhauses auf dem Friedhof in Vorschlag gebracht. Dies wurde vom Presbyterium unter Vorsitz von Pastor Emil Wiesner am 26. Juli 1886 mit der Begründung abgelehnt, dass es nicht angängig sei, "Römische und Juden", die ihre eigenen Begräbnisplätze hätten, erforderlichenfalls auf dem lutherischen Friedhof unterbringen zu müssen. Angesichts des schon langjährig gehegten Wunsches nach einem Krankenhaus waren die Presbyteriumsmitglieder vielmehr der Ansicht, "daß es sich empfiehlt, den Bau eines Cholera-Leichenhauses in Verbindung mit einem zum Krankenhause gehörigen Leichenhause zur Ausführung zu bringen." Sie ersuchten Amtmann Oskar Seyer "den Bau eines Krankenhauses für die Gemeine Versmold aufs neue ins Auge fassen und in die Hand nehmen zu wollen und erklär[t]en sich zu jeder Hilfe bereit, wodurch dies heilsame Werk gefördert werden kann."
Mangels Erfahrungen vor Ort hatte Sanitätsrat und Kreisarzt Dr. Leopold Kranefuß in der Kreisstadt Halle einen Bauplan in Vorschlag gebracht, der zunächst hinsichtlich der gesundheitspolizeilichen Vorschriften auf seine Eignung geprüft wurde. Nach dem Vorbild des 1859 von Albert Napper in England konzipierten Hüttenhospitals für ländliche Orte waren in Deutschland schon mehrere Krankenhausbauten verwirklicht worden. Das auf zunächst 21 Betten angelegte Haus sei überdimensioniert, so Kranefuß: "Die Zahl der Krankenzimmer und Lagerstätten" schien ihm "weit über das Bedürfnis hinaus berechnet zu sein.“ Dagegen habe, so der Fachberater, "die Isolierstation als die wichtigste öffentliche sanitäre Einrichtung [...] viel zu wenig Berücksichtigung gefunden, was umso mehr zu beklagen ist, als der Bezirk Versmold
am häufigsten von Epidemien heimgesucht wird." Noch einige Jahre, bis 1891, sollte es dauern, ehe das Krankenhaus in Betrieb ging.
Um die Jahreswende 1892/93 musste erstmals die Quarantänestation des neuen Krankenhauses ihre Tauglichkeit unter Beweis stellen - die Diphterie hatte sich im Ort eingeschlichen. In einer Schulchronik heißt es: "Am 26. Oktober 1892 mußte die Schule wegen der verbreiteten Diphterie geschlossen werden. Mehrere Kinder starben an der Seuche. Der Malermeister Knetter verlor seine beiden einzigen Kinder. Am 12. Dezember wurde der Unterricht wieder aufgenommen. [...] Leider mußte die Versmolder Schule mit dem Beginn des neuen Jahres abermals wegen der noch immer grassierenden Seuche bis zum 1. Februar geschlossen werden. Dann brachen von April bis Juni die Masern aus, sodaß oft kaum die Hälfte der Kinder anwesend war."

Die Spanische Grippe

Der 9. November 1918 war ein Samstag. Angesichts der drohenden militärischen Niederlage Deutschlands verkündete Reichskanzler Max von Baden eigenmächtig den Thronverzicht Kaiser Wilhelms II. Philipp Scheidemann und Karl Liebknecht riefen in Berlin eine parlamentarische bzw. sozialistische Republik aus. An jenem schicksalhaften Tag , dem Ende des Ersten Weltkriegs, wurden in Versmold acht Menschen begraben, die allesamt der sogenannten Spanischen Grippe zum Opfer gefallen waren, darunter allein vier Personen aus der Familie des Schmiedemeisters Temme aus Loxten-Stockheim: die Eltern Wilhelm (57) und Wilhelmine (52) sowie
deren Kinder Hermann (29) und Karoline (23). Wie so oft in der Geschichte hatte der Krieg die Krankheit an sich gezogen, dem Sterben an den Fronten folgte der Tod in der Heimat, weil die Widerstandskraft der durch den Krieg geschwächten Menschen nicht mehr hinreichte, den virösen Angreifern zu trotzen. Der vermutlich durch Truppentransporte aus den USA eingeschleppten Krankheit, über deren verheerende Auswirkungen in Spanien relativ offen berichtet und sie deswegen so benannt wurde, stand man machtlos gegenüber. Beunruhigend war zudem die Erfahrung, dass der Grippe vor allem 20- bis 40jährige Menschen erlagen. Drei Wellen, im Frühjahr und Herbst 1918, und regional unterschiedlich nochmals 1919, führten zu Todesraten, die mit der mittelalterlichen Pest vergleichbar sind. Manche Schätzungen gehen von weltweit an die 70 Millionen Tote aus, das wären mehr Opfer, als der gesamte Erste Weltkrieg forderte.

Wie der Tod auch hierzulande grassierte, ist dem Haller Kreisblatt ganz augenfällig zu entnehmen. Die Ausgabe vom 28. Oktober bestand zum größten Teil aus Todesanzeigen. Innerhalb von zehn Tagen waren in Versmold die Fleischwarenfabrikanten Gustav und Willy Menzefricke an der Grippe gestorben. Ein Nachruf der Segeltuchweberei C.W. Delius galt allein drei Mitarbeitern, die der Betrieb innerhalb einer Woche verloren hatte. Zwei oder mehr Tote aus einer Familie, wie in der von Temme, waren keine Seltenheit. Um der noch größeren Verbreitung der Krankheit entgegenzuwirken, riet Halles Landrat Dr. Siegfried Röhrig, „von der Veranstaltung von Trauerfeiern im Hause abzusehen und sich auf Feiern am Grabe zu beschränken“, eine Mahnung, die die ganze Hilflosigkeit gegenüber der Ausnahmesituation widerspiegelt.
Pfarrer Dr. Matthias Schmitz erinnerte sich an den anstrengenden Begräbnistag des 9. November: "Besonders ergreifend war es, als die vier Särge hintereinander der Sitte entsprechend um das Kreuz des Friedhofs getragen wurden und wie ein Kranz das Kreuz dessen umgab, der für Tote Leben hat. Unauslöschlich bleibt auch eingeprägt der Augenblick, als die vier Särge in ein gemeinsames Grab gesenkt wurden. Da blieb kein Auge trocken. [...] An demselben Tage bettete ich noch 4 weitere Leichen zur Ruhe des Grabes: Eine junge Frau von 30 Jahren, eine Kolonenfrau [Bauersfrau] mit ihrer Tochter, ebenfalls in ein gemeinsames Grab, und endlich einen müden Pilger von 73 Jahren. Inzwischen war es Abend geworden. Nasse Nebel lagerten auf der weiten Ebene. Körperlich und seelisch müde kam ich im Pfarrhause an. Dort traf mich die Kunde, die von Deutschlands Untergang sprach."

Die Geschichte schien am Ende zu sein. Neben den 347 Kriegstoten hatte sie im Amt Versmold nun auch noch etwa 70 Pandemieopfer hinterlassen. - Wie immer die aktuelle Geschichte ausgeht, eins steht fest: Unsere Chancen, gesund aus ihr heraus zu kommen, stehen ungleich besser als in allen vergangenen Situationen. Wenn wir es dann auch noch geläutert tun, wäre die Menschheit in einer kurzen Frist einen großen Schritt vorangekommen. Vor 250 Jahren wurde Friedrich Hölderlin geboren. Teilen wir heute seine Zuversicht: „Denn wo Gefahr ist wächst das Rettende auch."

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